RÜTTENSCHEID - Gute Zeit.

Leben im Viertel

Lust auf Vielfalt /// von Sven Thielmann

Für Lebensqualität wird Rüttenscheid schon seit seiner Urbanisierung am Ende des 19. Jahrhunderts geschätzt. Die Mischung von Kultur, Freizeit, Einzelhandel, Gastronomie und Gewerbe, gepaart mit einer zentralen Lage, ist charakteristisch für den Stadtteil. Neben dem Urbanen und Trendigen sind es aber die vielen kleinen Dinge, die das Leben hier ausmachen …

Impressionen aus Rüttenscheid - Leben mit urbaner Tradition

Wenn die Welt ein Dorf ist, wie so mancher Weitgereiste gern postuliert, dann ist Rüttenscheid die Welt. Allerdings knubbelt sich hier nicht alles auf einem Haufen, sondern reiht sich hübsch gefällig wie die Perlen auf einer Schnur längs des alten Highways zwischen dem altehrwürdigen Stift Essen und dem weithin ausstrahlenden Benediktinerkloster Werden. Weshalb die Rüttenscheider Straße – kurz und charmant meist Rü genannt – mit einigem Fug auch Werdener heißen könnte.

Was die Mönche wohl zu den vielen Mädchen rechts der Piste (blickten sie doch aus dem Ruhrtal gen Essen) gesagt hätten? Oda, Emma, Rosa … und nicht zu vergessen Julien ihr Straße. Und das schon seit über 100 Jahren, als es dem Magistrat gefiel, den Straßen der schon damals bevorzugten Wohngegend östlich der Rü weibliche Vornamen zu geben und gleichzeitig auf der anderen Straßenseite den Jungs zu ihrem Recht zu verhelfen. Heute sind die Herren der Schöpfung längst in Unterzahl, sind manche stolzen Namen durch Prominenz wie Fridtjof Nansen oder Joseph Lenné ersetzt worden. Was blieb, sind Christoph, Berthold, Gregor etwa und natürlich Martin, der seinen Namen brüderlich mit einem U-Bahnhof teilt.

Allerdings gibt’s bei den Mädels – dem Mädchenviertel – eh viel mehr zu entdecken: kleine Goldschmiede-Ateliers ebenso wie den altgedienten Spezialisten für Kettensägen oder – in der Reginenstraße – die einzige Kerzenfabrikation weit und breit. Und nicht zu vergessen die schnuckelige Galerie Cinema in der Julienstraße, Essens kleinstes und gemütlichstes Kino im Wohnzimmerformat, wo seit Menschengedenken, nämlich über 30 Jahren jeden Sonntagnachmittag „Harold and Maude“ zum Kuscheln einlädt.

Noch Mitte des 19. Jahrhunderts nahezu ausschließlich landwirtschaftlich geprägt, zählt Rüttenscheid seit den Jahren der Gründerzeit, als gezielte Stadtplanung urbanes Leben brachte, zu den bevorzugten Wohngegenden Essens. Was schon damals an der gesunden Mischung aus bürgerlicher Wohnbebauung, Gewerbe, Einzelhandel und Gastronomie lag – eine ideale Infrastruktur mit ausgewogenem sozialen Gefüge, die zusammen bis heute die Attraktivität des Viertels ausmachen.

Was sich auch im vielfältigen Warenangebot widerspiegelt: Von den über 400 Geschäften sind gerade mal jedes zehnte Ableger der sonst allgegegenwärtigen Ketten. Stattdessen dominieren meist inhabergeführte Fachgeschäfte, wo es noch eine individuelle Auswahl und persönliche Beratung gibt, die man anderswo oft vergeblich sucht.

Und wer erst spät nach Hause kommt, kann bis 22 Uhr noch manchen Supermarkt oder Friseur geöffnet finden, um danach vielleicht in einer der vielen Kneipen und In-Locations zu entspannen – ganz nach Belieben in der Eckkneipe, in der man den Nachbarn trifft, oder im Nobelrestaurant für den verwöhnten Gaumen. Will man lieber noch Joggen, findet man ganz in der Nähe die Anbindung an das nächste Grün- oder Waldgebiet. Wie auch eine Vielzahl von Freizeitmöglichkeiten.

Im Trubel des urbanen Treibens entlang der Flanier- und Einkaufsmeile Rüttenscheider Straße finden sich – manchmal etwas versteckt – zahlreiche grüne Oasen der Ruhe. Etwa der Christinenpark, der für die Älteren immer noch der alte Friedhof ist und inzwischen Dank einer kinderfreundliche Gastronomie vor Vitalität nur so sprudelt. Oder die altehrwürdige Siechenkapelle; es gibt viele Orte der Erholung und des Innehaltens. Vom 65 Hektar großen Grugapark ganz zu schweigen.

Für Kinder gibt es zahlreiche Spielplätze, gute Schulen und Betreuung, so dass sie in den Problemstatistiken Essens kaum auftauchen. Allerdings zieht es so viele nach Rüttenscheid, dass – verstärkt durch die kritische Finanzlage der Stadt – die Nachfrage das Angebot immer deutlich übersteigt.

Die Highlights des kulturellen Angebotes der Region liegen in unmittelbarer Nähe, vom preisgekrönten Aalto-Theater und der Philharmonie bis zu den vier Kleinkunstbühnen und zahlreichen Musikangeboten. Nicht zu vergessen die zahlreichen sonstigen Freizeitmöglichkeiten.

Die Verkehrsinfrastruktur ist sehr gut, so dass mancher eigentlich kein Auto braucht. Und wer die Strukturen zu nutzen weiß, kann Wohnen und Arbeiten nahe beieinander verwirklichen. Der Traum der Städtebauer. Ein Stadtteil also, in dem es sich prima leben lässt.

Mediterranes Marktvergnügen

Es sind vor allem die kleinen Dinge, die das Leben in Rüttenscheid so lebenswert machen. Zum Beispiel die Möhre, die jedes Kind von dem niederrheinischen Bauern mit der Baskenmütze geschenkt bekommt und zwar auf dem Rüttenscheider Markt, dessen überaus vielseitiges Angebot jeden Samstag- und Mittwochmorgen Feinschmecker von weither anlockt.

Ob sommers, wenn die kunterbunte Mischung der über 90 Markthändler mediterranen Charme und die Quirligkeit einer italienischen Piazza verströmt, oder winters, wenn alle dickvermummelt den Unbilden des Wetters trotzen: Hier zeigt sich das Rüttenscheider Leben auf kleinstem Raum, begegnen sich Jung und Alt, Arm und Reich überraschend ungezwungen zum Einkaufen, Quatschen, Genießen und einfach nur Spaßhaben.

Angesichts der frischgeschlachteten Kaninchen – „… sollte man immer nur im Fell kaufen“, riet einst der Freund aus Italien –, der üppig mit Knoblauch marinierten Lammrücken aus dem Münsterland oder prächtiger Maispoularden läuft da regelmäßig so manchem Hobbykoch das Wasser im Munde zusammen. Worüber eingefleischte Vegetarier natürlich überhaupt nicht lachen können, die dafür ein reiches Angebot knackfrischer Gemüse vorwiegend vom Niederrhein, aber auch an exotischen Früchten, Gewürzen und Kräutern aus aller Welt in überbordender Vielfalt genießen können.

Und wenn plötzlich ein intensiver Duft über den halben Markt zieht, hört man von allen Ecken und Enden „Mama, krieg ich eine Waffel …?“ Und dann stehen sie alle lieb und brav (hier zahlt Geduld sich aus, wissen selbst die Kleinsten!) in der Schlange und warten auf das lecker-dicke Teigquadrat, das dralle Bäckerinnen im Akkord aus ihrem halben Dutzend Eisen zaubern. Ein paar Schritte weiter steigt einem dafür der unverwechselbare Geruch heißer Erbsensuppe in die Nase, ganz zu schweigen von der unwiderstehlichen Mischung zuckergefasster Kräuter und Lakritzen, die jeden Marktbesucher gleich an der Haupteinflugsschneise aufs Intensivste begrüßt …

Sinnliche Genüsse überall. Die piktoreske Vielfalt von frischen Produkten erscheint wie ein Schlaraffenland, und in der Tat darf, nein: soll man überall probieren und Neues entdecken. Da gibt es èn passant von netten Markthändlern den Hinweis auf exotische, nie zuvor gesehene Früchte direkt von Pariser Großmarkt. Plus Tipps zur Lagerung und Zubereitung, gelegentlich auch mit Rezept fürs komplette Menü. So manches Mal erfährt man beim Blumenkauf nicht nur den Namen der Rose, sondern auch ihre Geschichte. Den neusten Klatsch aus der Nachbarschaft gibt’s gratis dabei. Markt eben.

Hier trifft sich regelmäßig halb Rüttenscheid zum Einkaufen und Plauschen. Man kennt sich halt. Und man kennt seinen Markthändler, der ganz für seine Produkte lebt, die er um 4 Uhr morgens – bei jedem Wind und Wetter – vom Großmarkt oder Erzeuger holt. Den Obstbauern, der augenzwinkernd etwas Besonderes von hinten angelt. Den waschechten Franzosen, der ausgefallene Leberpasteten und Fromages aus dem Traumland aller Käsefreunde offeriert. Die Nudelspezialisten mit handgemachter Pasta vom Feinsten, mit denen man die Freunde beim italienischen Abend mächtig beeindrucken kann.

Wer angesichts der vielen Leckereien Hunger bekommt, der hat die Qual der Wahl – lieber eine deftige Erbsensuppe oder doch ein Edelfischfilet … Verzehren kann man das Ganze dann ganz nach Belieben an einem der Tische oder am Rande des frisch renovierten Marktbrunnens. Der wurde 1955 vom Folkwang-Professor Adolf Wamper geschaffen und mit seiner drallen Händlerin samt Schirm rasch zum Wahrzeichen des Rüttenscheider Marktes. Bis er denn nach und nach zerfiel. Dank zahlreicher privater Spenden konnten der Bürgerund Verkehrsverein (BVR) und die Interessengemeinschaft Rüttenscheid (IGR) unter der Schirmherrschaft von Bürgermeister Rolf Fliß den Brunnen nach aufwändiger Restauration 2007 wieder sprudeln lassen. Sehr zur Freude vieler Rüttenscheider, die mit diesem Wahrzeichen zahlreiche Kindheitserinnerungen verbinden.

Neigt sich das Marktgeschehen gegen 13 Uhr so langsam dem Ende zu, wird es samstags erst so richtig lebendig. Dann beginnen die Händler nämlich, sich lautstark mit Sonderangeboten zu übertreffen, wobei die wahren Marktschreierqualitäten zum Vorschein kommen: „Jetzt drei Bund Rosen nur noch ein Fünfer …“ Für viele Marktbesucher das Grande Finale eines gelungenen Einkaufstages.

Der damit freilich für viele noch längst nicht beendet ist. Geht es doch traditionsgemäß anschließend zum großen Schaulaufen, zum Sehen und Gesehen werden, Freunde treffen und das Wochenende planen, gern auch in eines der einschlägigen Lokale und Cafes auf die Rü, jenes mit im Frühjahr wunderschön blühenden japanischen Kirschen bestandene Prachtboulevard’chen. Wo der Einkaufsbummel oft noch munter weitergeht…


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